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Die Stille im Gesang – Ernst Barlachs "Der singende Mann" in der Sammlung Deilmann

Es gibt Kunstwerke, die laut sind, die auf sich aufmerksam machen, die fordern. Und es gibt Werke, die ihre Kraft aus der Stille schöpfen. Ernst Barlachs Der singende Mann gehört zu letzterer Kategorie – und wirkt gerade deshalb umso intensiver.

"Der singende Mann" von Ernst Barlach, 1928 (Bronze), in der Sammlung Deilmann
"Der singende Mann" von Ernst Barlach, 1928 (Bronze), in der Sammlung Deilmann

Wer vor dieser Skulptur steht, sieht einen Mann mit geschlossenen Augen, das Gesicht leicht nach oben geneigt. Der Mund ist geöffnet, als sei er mitten in einem Lied. Doch keine Geste, keine Mimik verrät, welche Melodie in ihm klingt. Ist es ein freudiger Gesang oder ein leises Gebet? Ein Lied der Hoffnung oder ein Klagelied? Man könnte meinen, die Figur sei in sich versunken, fast erstarrt – und doch ist sie voller Ausdruck. Ihre Kraft liegt nicht in der Bewegung, sondern in der Haltung, in der inneren Spannung, die sie umgibt. Es ist ein Moment völliger Hingabe, festgehalten in Bronze.


Die Kunst des Wesentlichen – Was macht Der singende Mann so besonders?


Ernst Barlach schuf das Werk 1928, zunächst in Holz, später als Bronzeguss. Die Figur trägt einen schweren Mantel, die Hände ruhen ineinander gelegt vor der Brust. Es gibt keine überflüssigen Details, keine Ablenkungen – Barlach reduziert die Form auf das Wesentliche, eine Technik, die er meisterhaft beherrschte. Seine Kunst bewegt sich zwischen Expressionismus und einer fast archaischen Reduktion. Die Körper sind oft kompakt, in sich ruhend, als würden sie die Kraft für das, was sie ausdrücken, tief aus ihrem Inneren schöpfen. Der singende Mann ist ein perfektes Beispiel für diese Haltung.


Warum dieses Werk in die Sammlung Deilmann gehört


Die Sammlung Deilmann vereint Kunst, die mehr ist als bloße Darstellung. Sie beschäftigt sich mit existenziellen Fragen, mit Reduktion und Ausdruck, mit Zeitlosigkeit und Momenthaftigkeit zugleich.

In diesem Kontext nimmt Der singende Mann eine besondere Rolle ein. Während viele Werke der Sammlung Bewegung, Dynamik und die Vielfalt zeitgenössischer Kunst widerspiegeln, setzt Barlachs Figur einen Kontrapunkt. Sie steht für das Gegenteil von Eile, für einen Augenblick der Konzentration. Gerade in einer Zeit, in der Kunst oft mit Geschwindigkeit, Interaktion und Konzepten verbunden wird, erinnert diese Skulptur an eine andere Dimension: die Kraft des Innehaltens.


Eine Begegnung mit dem Werk – Die Wirkung auf den Betrachter


Wer durch die Sammlung Deilmann geht und schließlich vor Der singende Mann steht, erlebt oft einen Moment der Überraschung. Es ist nicht die Art von Kunstwerk, die den Betrachter unmittelbar anspringt – und doch bleibt man davor stehen. Vielleicht, weil man sich fragt, was er singt. Vielleicht, weil man spürt, dass dieser Gesang nichts Äußeres ist, sondern etwas Inneres.


Ein Besucher bemerkte einmal:


“Es ist seltsam – normalerweise erwarte ich, dass eine Figur, die singt, irgendwie bewegt wirkt. Aber je länger ich hinschaue, desto mehr merke ich, dass hier etwas passiert. Der Gesang ist nicht für uns. Er ist für ihn selbst.”

Und genau das macht das Werk so faszinierend. Es stellt keine Fragen, es gibt keine Antworten – es ist einfach da. Und doch spricht es jeden an, der sich darauf einlässt.


Barlach und seine Zeit – Ein Werk des Umbruchs


1928 war Deutschland geprägt von Unsicherheit. Die Weimarer Republik kämpfte mit wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, die Gesellschaft war zerrissen zwischen Fortschritt und Tradition. In der Kunst suchten viele nach neuen Wegen, nach Geschwindigkeit, neuen Medien, Provokation. Barlach hingegen blieb der Stille treu. Seine Werke sind keine Antwort auf die Moderne – sie sind eine Art Rückzug in eine Welt, die nicht von der äußeren, sondern von der inneren Bewegung lebt. Diese Haltung machte ihn nicht nur zu einem der bedeutendsten deutschen Expressionisten, sondern auch zu einem Künstler, dessen Werke bis heute nachhallen.


Der singende Mann – Ein Lied ohne Worte


In einer Welt voller Stimmen, Meinungen und Geräusche ist Der singende Mann eine Erinnerung daran, dass nicht alles gehört werden muss, um zu wirken. Sein Gesang bleibt stumm – und doch bleibt er. Die Sammlung Deilmann hat mit diesem Werk nicht nur eine Skulptur erworben, sondern einen Moment, der sich dem schnellen Blick entzieht. Wer sich Zeit nimmt, wer stehen bleibt, wer sich auf ihn einlässt, wird vielleicht feststellen: Manche Lieder klingen lauter in der Stille.



 
Ernst Barlach
Ernst Barlach

Ernst Barlach (1870–1938) zählt zu den bedeutendsten Bildhauern des deutschen Expressionismus. Seine Werke sind geprägt von einer Reduktion auf das Wesentliche, einer tiefen Innerlichkeit und einer unverwechselbaren Schwere. Der singende Mann steht exemplarisch für diese künstlerische Haltung: weniger äußere Bewegung, mehr innere Intensität. Barlach selbst sagte einmal: „Ein Kunstwerk soll nicht erzählen, sondern sein.“ Genau diese Haltung spiegelt sich in der Skulptur wider.


Während Barlach die Stille in seiner Skulptur sichtbar macht, gibt es andere Künstler, die ähnliche Themen aufgreifen. Constantin Brâncuși etwa arbeitete mit reduzierten, fast meditativen Formen, die mehr durch ihre Präsenz als durch ihre Details wirkten. Mark Rothko schuf Farbfelder, die nicht durch Dynamik, sondern durch Tiefe auf den Betrachter wirkten. Auch Giacomettis Figuren vermitteln oft eine ähnliche Entrücktheit, eine Isolation, die gleichzeitig Distanz schafft und eine emotionale Nähe erzeugt. Alle diese Künstler eint die Idee, dass Reduktion nicht gleichbedeutend mit Leere ist – sondern mit Konzentration.


Sammlung Deilmann

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